Barfuß ging er den bewachsenen Waldweg entlang. Tropfen wanderten auf seine Haut, während jeder Schritt ein wenig Ballast zurückließ. In der Ferne zwitscherte ein Vogel eine wunderschöne Melodie und jede Berührung mit dem feuchten Waldboden, dem moosigen Untergrund, den Steinen und Ästen, brachte ihn weiter zurück zu sich selbst.
Ruhe durchfloss ihn, während er die Stille des Waldes in sich aufnahm. Die Welt war zu laut, zu übertönend. Manchmal war es so, als ob die Welt ihn mit ihren Regeln zermürben wollte. Die Gesellschaft mit ihren subtilen Zwängen, die er jedoch wahrnahm, wie einen Hammerschlag, fühlte sich manchmal an, wie das bedrohliche Flüstern des Todes. Ein Schlag nach dem anderen zwang ihn nach und nach auf den Boden. Auf einen gepflasterten, versiegelten Boden aus geschlagenem, gebrochenem Beton.
Es war nicht so, dass Gustav keine Gesellschaft mochte. In kleinen Dosierungen, mit Menschen, die ihm guttaten, liebte er es sogar. Menschen, die keine Kraftsauger waren, indem sie ihre Freundlichkeit nur heuchelten, ihn und seine Gutmütigkeit ausnutzten und lieber redeten als echte Gespräche führten. Es gab sie zuhauf. Menschen, die nicht weiter blicken konnten als zu seiner Kleidung – die nicht durchdrangen zu seinem Herzen, zu seiner Seele. Doch er hatte sie gefunden. Im Chaos der Welt, hatte er sie zwischen den glänzenden und perfekten Menschen gefunden.
Doch dann und wann fand er sich verloren in der Welt wieder. In einer zu lauten, zu hektischen Welt, voller leeren Emotionen und Oberflächlichkeiten. In diesen Momenten war es die Stille der Natur, die ihn auffing. Sie breitete ihr Netz aus Ehrlichkeit und Vertrauen aus und Gustav ließ sich in ihre liebenden Hände gleiten, badete in dem Wissen, genug zu sein. Sonnte sich im Licht der Gewissheit, er selbst sein zu dürfen und atmete das Gefühl der Bestätigung, nicht zu viel zu sein. Nicht zu viel zu fühlen. Denn genau hier, fühlte er das Leben. Hier war es so, als ob er ein Teil von allem wäre, ein Puzzlestück des Waldes, ein Tropfen des Universums in einem Meer aus Wahrheit. Wie ein Vogel, der durch die Weiten der Welt gleitet.
In einer Gesellschaft, in der keine Zeit darauf verschwendet wurde, Unterschiede zu sehen, wurden Worte, die an anderen abprallten für ihn zu abgefeuerten Gewehrkugeln, die sich in sein Herz bohrten. Emotionen, die andere in Zaum hielten, schwappten bei ihm über und rannen an seinem Herzen hinab, wie flüssiges Blei. Ungehört, ungefühlt, lebte er inmitten von rauen Ecken und Stacheln aus Ignoranz.
Schon als Kind fühlte er mehr als andere, fühlte nicht nur den Wind durch seine Haare wehen, sondern nahm die Geschichten wahr, die er mit sich trug. Er sah nicht nur den Sonnenuntergang am See, sondern ließ ihn tief in seine Seele. Und wenn ein Vogel sang, klang es führ ihn nicht nur wunderschön, sondern wie das Lied der Welt, das in Harmonie in seinem Herzen mitschwang. Er fühlte sich verbunden.
Und wenn er sich in Gesprächen wieder fand, dann fühlte er auch die unsichtbaren Worte, die zwischen den Zeilen im Schatten verborgen lagen. Er fühlte sie so deutlich, als wären sie ausgesprochen worden. Und das wurden sie auch – mit einem Blick, einem Stocken im Satz, einer Betonung. Manchmal mit dem Duft von Blumen und manchmal mit einem Vorschlaghammer aus Sprache. Und wenn Menschen, die den Blick für Seelen verloren hatten ihn verletzten, dann fühlte er sich einsam. Unverstanden. Ungeliebt. Denn was für manche banal klingt, war für Gustav wie das Zerbrechen des Bodens, auf dem er stand.
Die tiefe Wahrnehmung der Schwingungen, der Harmonie und des Chaos war lange Zeit sein Feind gewesen. Denn Sensibilität wurde mit Schwäche assoziiert. Sätze wie „Sei nicht so sensibel“ oder „stell dich nicht so an“ waren Gründe, warum er sich verlor. Denn seine Persönlichkeit zu verneinen verletzte das Band zwischen ihm und der Welt.
Gustav ging durch Feuer, durch Eis und Fluten. Er erklomm den Sturm und wurde das Chaos selbst. Bis er inmitten des Gedankensturms das Band erhaschen konnte – und zugriff. Er fühlte die Welt, fühlte sich selbst und durchbrach seine eigene Mauer. Und dann wurde es still. Denn der Mensch der er war, brauchte kein Lärm. Nur die sanfte Musik der Welt. Die klänge der Natur, das Gefühl von Wassertropfen auf der Haut, den moosbedeckten Waldboden unter den Füßen, die grüne, feuchte Wiese, die ihn erdete.
Gustav fand Stärke in sich selbst. Er machte seine vermeintliche Schwäche zu seinem Licht und erwachte in einer Welt, die noch immer nicht perfekt war. Eine Welt, die noch immer zu laut war. Doch eines hatte sich geändert. Er folgte nun der Stimme seines Herzens und fand Ruhe in einer Welt, die wenig Platz für Echtheit, wahre Emotionen und Wahrheit hatte.
Ein Vogel sang ein Lied.
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Diese Geschichte ist so berührend geschrieben. Als sensibler Mensch finde ich mich selbst in dieser Geschichte wieder und finde es schön, dass daraus hervorgeht, dass sensibel und stark fühlend keine Schwäche ist.
Vielen Dank für diese wunderschönen Worte 🙏✨✨✨
Vielen lieben Dank😊 Freut mich sehr, dass meine Worte dich berührt haben✨️😊. Danke fürs Lesen😊