Die Wanderträume

Stian wachte aus einem dieser Träume auf. Er lag in seinem Bett und ließ die Augen noch ein wenig geschlossen, um das Gefühl festzuhalten. In der letzten Zeit kamen sie immer häufiger zu ihm. Die Wanderträume, wie er sie für sich nannte. Und jedes Mal, ließen sie ein Gefühl zurück. Eine Sehnsucht, die nicht zu greifen ist. Wie die Vorstellung an einen warmen Sommertag, während wir durch eine schneebedeckte Winterlandschaft streifen. Ein Gefühl, wie die Erinnerung an das sanfte Kribbeln, an den ersten warmen Frühlingsabend, eingehüllt vom Gesang der Vögel und dem sanften Rascheln der zarten Blätter in den Bäumen. Ein Gefühl, dass in seiner Seele eingeflochten ist, jedoch so tief liegt, dass der Ursprung nicht aufzuspüren ist. Jedes Mal, wenn er aufwacht, ist es so, als ob die Quelle seines Gefühls hinfort geweht wird. Wie ein Blatt im Herbststurm, das man aus den Augen verliert, sobald der Wind es mit den zahllosen anderen bunten Blättern in die Luft wirbelt und hinfort treibt.

Doch heute war etwas anders. Das Gefühl schwang in seinem Körper nach. Sogar als seine Augen bereits geöffnet waren und das Licht des Tages erfassten, was durch den Spalt der Gardine auf sein Bett schien. Unwillkürlich musste er an einen Wald denken. Einen Wald … und da war noch mehr. Eine Lichtung? In seinen Gedanken schien die Sonne auf eine Blumenwiese, die von Bäumen umrahmt wurde. Spielten seine Gedanken ihm einen Streich? War es nur der Sonnenstrahl, der durch die Gardinen hindurch seinen Verstand blendete?

Die weiche Daunendecke nahm die gemütliche Wärme mit, als Stian sie zurückschlug. Er setzte sich auf und versuchte seine Gedanken zu ordnen. Er stand auf und war noch etwas wackelig auf den Beinen. Dabei stieß er an seinen Nachttisch und die kleine Holzschnitzerei, an der er gestern Abend noch gearbeitet hat, fiel zu Boden. Es war ein Vogel mit gespreizten Flügeln, den er auf einer seiner Wanderungen gesehen hatte. Stian schnitzte gerne und viel. Es half ihm seine Gedanken zu ordnen und zu sich selbst zu finden. Eigentlich hatte er Urlaub und sollte ausschlafen. Doch die Wanderträume sorgten immer wieder dafür, dass der Schlaf in unerreichbare Ferne wich, sobald der Nachhall der Gefühle durch seinen Körper schwang.

Ein Wald. Eine Lichtung. Er schüttelte den Kopf und begann sein Morgenritual. Zähneputzen, duschen und als Krönung den wunderbarsten Kaffee der Welt. Er hatte noch ein Päckchen Erdkaffee, das er letztes Jahr in seinem Urlaub, im sogenannten Tal der Schmetterlinge gekauft hatte. Die Schmetterlinge waren natürlich nicht zu sehen gewesen, denn es war Winter. Aber das Tal und seine urigen Häuschen, mit den angrenzenden wundervollen Wäldern war ein Paradies, das ihn auf eine magische Weise anzog. Er war bereits viele Male dort gewesen. Ein Ort, den er lieben gelernt hat, nachdem er sich auf einer Fernwanderung quer durch das Land seinen Fuß verstauchte und zwei Wochen pausieren musste. Da kam dieses Örtchen gerade recht. Ein von Ruhe erfülltes Fleckchen Erde, indem die Zeit langsamer zu laufen schien. Technische Errungenschaften und Ideen, kamen nur viele Jahre verzögert dort an und verliehen dem Dorf seinen Charme. Und am Rande dieses Dorfes, was den Namen „Fern“ trug, gab es diese Kaffeerösterei. Eine kleine Hütte, die ihren bezaubernden Duft mit dem des Waldes vermischte und eine Harmonie erzeugte, die jedes Parfum der Welt in den Schatten stellen würde.

Stian dachte an die Fernwanderung zurück. Wie immer wenn er das tat, waren seine Gedanken im Nebel. Verborgen vor seinem grabenden Bewusstsein. Er nahm den letzten Schluck, wusch seine Tasse ab und stellte sie zurück in den Schrank. Er hielt inne. Dann nahm er sie wieder heraus. Heute brauchte er eine zweite Tasse.

Seine Gedanken verschachtelten sich in überlagerten Sequenzen des bevorstehenden Tages. Die Sonne schien, es war relativ warm für einen frühen Mai-Tag und er hatte nichts vor. Also packte er seinen Wanderrucksack, füllte eine Thermokanne mit seinem Lieblingskaffee und verließ die Wohnung. Auf dem Weg zur Bahnstation, hielt er noch kurz bei der Bäckerei „Sanfte Welten“ an und kaufte sich sein Lieblingsbrötchen, was er bereits vor den Türen der Bäckerei aß. Als er sich zum gehen wandte hielt er noch einmal inne. Dann ging er wieder rein und holte sich ein weiteres Brötchen. Heute mussten es zwei sein.

Er musste nicht lange nachdenken. Die Sehnsucht zog ihn nach Fern. Dem Ort, an dem er Heilung fand. Vielleicht würde er seine Seele auch heilen können. Die Wanderträume waren wie ein Ruf aus einer fernen Erinnerung. Wie ein Ruf aus einer Welt jenseits der Zeit. Seit dem die Wanderträume kurz nach Abschluss seiner Fernwanderung vor etwa zwei Jahren begonnen haben, zeigten sie sich ein bis zwei Mal im Monat, um seine Gedanken durcheinander zu bringen. Doch seit etwa zwei Wochen wirbelten sie fast täglich sein Innerstes in einem Gefühlssturm umher, der mal wilder und mal so sanft war, wie Erdkaffee. Und genau wie der Kaffee seinen Duft über das Tal der Schmetterlinge ausbreitete und mit dem Geruch des Waldes vermengte, so vermischte sich seine unbestimmte Sehnsucht mit dem Tal. Mit Fern. Aus seinem Blickwinkel war der Name tatsächlich sinnvoll. Denn von seiner Wohnung aus, musste er etwa fünf Stunden mit der Bahn fahren, um in die Nähe des Tals zu gelangen. Die Bahn hielt im Ort Brück und von dort aus, musste man je nach Geschwindigkeit, ungefähr zwei Stunden entlang eines wunderschönen Waldweges in Richtung Süden gehen.

Ankunft in Fern

Heute wurde das Tal der Schmetterlinge seinem Namen mehr als gerecht. Bereits bevor sich die kleinen Häuschen und das beschauliche Dorf zeigten, flogen die ersten Tagpfauenaugen und Zitronenfalter um Stian herum, als würden sie ihn begrüßen. Und als er um die Kurve bog und den Duft von Erdkaffee und Tannenzapfen, gemischt mit den vom sanften Wind in Wellen gelegten Wiesen und raschelnden Laubbäumen vernahm, ließ er einen Teil von sich auf dem Weg zurück. Er warf ein Gewicht ab, dass nur dieser Ort von ihm nehmen konnte und ging leichtfüßig seinem Ziel entgegen. Der große Felsen am Fluss „Sina“. Hier hatte er schon viele Stunden verbracht, in denen er seine Gedanken den Fluss hinunterschickte und seine Seele mit der Reinheit Sinas vom Schmutz der Zeit säuberte.

Stian zog seine Wanderschuhe aus und hielt seine Füße in die kalten Fluten. Und dann sah er einfach hinaus auf das Wasser, wie es dem steten Strom des Flusses folgte. Er konnte stundenlang einfach da sitzen und der Zeit beim fließen zusehen. Der Anblick hatte etwas Magisches. Das Glitzern der Sonnenstrahlen auf der gekräuselten Wasseroberfläche und das sanfte Plätschern, erzeugte in Stian einen Frieden, der vollkommen war.

Nach seiner mehr als sechsstündigen Reise und der erholsamen Pause, brachten die ersten rötlichen Sonnenstrahlen ihn dazu aus seinen Gedanken zu erwachen. Es war Abend geworden und er machte sich auf den Weg zum Gasthof „Libellenstern“. Es gab zwar noch einen anderen Gasthof am anderen Ende des Dorfes aber der Libellenstern hatte das bessere Frühstück. Und leere Zimmer waren immer zu bekommen.

Im Gasthaus Libellenstern

Als Stian das Gasthaus betrat schlug ihm eine Stille entgegen, die bei einem vollen Schankraum nur dann entstehen kann, wenn der Koch Tam Lorin hieß. Schlürfen, Schmatzen und klapperndes Besteck auf den rustikalen Tellern fügten dem Moment eine Bestätigung hinzu.

Tam war ein liebenswürdiger Mann in den Vierzigern, der das Kochen nicht nur liebte, sondern es lebte. Er verbrachte sogar seine Freizeit damit, neue Rezepte auszuprobieren, die Wälder nach neuen Zutaten abzusuchen und nahm Tipps von Reisenden immer dankend an. Und wie der Zufall es wollte, war im Libellenstern der Koch gleichzeitig der Wirt und Besitzer des Gasthauses. Tam und Stian verstanden sich so gut, dass es sich anfühlte, als hätte diese Freundschaft schon immer bestanden.

Nach einer herzlichen Umarmung, ein paar warmen Worten und einer Schüssel von Tams Eintopf, ging Stian die Treppe zu den Zimmern hinauf. Er buchte ein Zimmer, in dem das Fenster zum Fluss ausgerichtet war. Er ließ es geöffnet, denn in der stillen Dunkelheit konnte er sogar das leise, wohltuende Plätschern vernehmen, zu dem er kurze Zeit später in einen tiefen Schlaf versank.

Stian erwachte und hielt die Augen geschlossen. Die Wanderträume folgten ihm. Egal, wo er war. Deswegen hatte er sie so genannt. Wie wandernde Träume waren sie, die unerfüllt gegen seine Seele klopften. Träume, die zu Staub zerfallen, wenn das Bewusstsein wieder die Oberhand übernimmt. Wie das Wasser, das in der Sina davongetragen wird und zwischen all den Tropfen nicht mehr auszumachen ist.

Doch das Gefühl schwang nach. Langsam öffnete er die Augen und war überrascht, dass es noch dunkel war. Der brennenden Kerze nach zu urteilen, waren gerade einmal drei oder vier Stunden vergangen. Doch wie immer nach Wanderträumen, war der Schlaf weggeblasen, wie Staub, den man von einem Buch pustet, bevor man es aufklappt, um seinen Inhalt zu lesen. Sein Tag war aufgeklappt und der Schlaf in die Welt gepustet worden. Also machte er sich bereit. Frühstück wird es noch nicht geben, da auch der gute Tam eine Auszeit vom Kochen braucht. Stian ging die knarzenden Stufen in den Schankraum hinunter und durchquerte ihn. Er öffnete die Tür und trat unter den funkelnden Sternenhimmel.

Die Wanderträume erwachen

Der Mond schien heute Nacht so hell, dass er die Wege in einen silbrig glänzendes Licht tauchte. Also beschloss Stian einen Spaziergang zu machen. Er zog seinen Mantel enger, um die kühle Luft auszusperren und ging den Weg hinunter. Er passierte den großen Felsen, auf dem er gestern seine Ankunft in Fern genoss und folgte dem Weg weiter hinunter bis zum angrenzenden Wald. Ein Pulsieren in seiner Seele ließ ihn innehalten. Waren es die Wanderträume? Er kannte dieses Gefühl. Diese unbestimmte, tiefe Sehnsucht. Er schloss seine Augen und konzentrierte sich. Nichts. Das Gefühl war wieder verschwunden. Doch etwas in ihm zog es in den Wald. Etwas, das keine Widerrede akzeptierte. Also betrat er den kleinen Pfad, der wie er wusste, irgendwo an einem großen See enden würde. Er hatte Karten gesehen, auf denen es zu sehen war und eines Tages wollte er selbst dort hin wandern. Jedoch hatte er sich vorgenommen, dies bei Tageslicht zu tun.

Der verschlungene kleine Pfad führte ihn in einen Wald, in dem kleine Lichter tanzten, die wie aus einer anderen Welt zu sein schienen. Sie flogen neugierig um ihn herum, wirbelten umher und verteilten sich gleich darauf wieder zwischen den hochgewachsenen Bäumen. Auf einem vom Schein des Mondes beleuchteten Pfad, setzte Stian einen Schritt vor den anderen, während über ihm zwischen den Baumkronen die Sterne funkelten und um ihn herum die Lichter tanzten. So verging die Zeit und jeder Schritt den er tat, war unwiderruflich in der Vergangenheit verschwunden.

In einem Moment des reinsten Friedens brach es über Stian herein. Die Wanderträume erwachten und brachten seine Seele zum Beben. Aber er war doch wach! Wie konnte er träumen? Bilder formten sich vor seinen Augen und zerstoben gleich wieder in alle Richtungen. Bilder, die etwas in ihm berührten. Eine Lichtung, Ein Haus. Kaminfeuer. Und über allem lag der Geruch von Erdkaffee, der sich wie eine weiche Decke über seine Seele legte. Es dauerte einen Moment, bis Stian verstand, dass es die kleinen Waldlichter waren, die diese Bilder erzeugten. Es war, als würden sie eine direkte Verbindung zu seiner Seele herstellen. Als würden sie einen Tunnel zu einer längst vergessenen Welt öffnen wollen. Stian wurde schwindelig und ging in die Hocke, um die Sternchen vor seinem inneren Auge zu vertreiben. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Als er sie wieder öffnete, sah er wie die Waldlichter sich versammelten und einen Weg formten. Sie flankierten ihn gerade zu. Dieser stummen Einladung folgend, verließ Stian den Pfad und nahm die Abzweigung, die sich leuchtend durch den dunklen Wald zog.

Die Lichtung

Der Weg endete und vor Stian breitete sich eine Lichtung aus, die wie in Magie getaucht schien. Der Mond zauberte sein zartes Licht auf die Erde und die kleinen Waldlichter flogen über die vor ihm liegende Wiese, wirbelten durch die Luft, als würden sie sich freuen und verteilten sich dann auf der Lichtung. Und inmitten dieser aus Träumen zu bestehenden Kulisse stand ein Haus. Beleuchtet vom Mondlicht und den Sternen. Umringt von Waldlichtern und umgeben von Magie. Die Situation wirkte auf Stian so unwirklich und doch so real. Sind es die Wanderträume, die seine Seele im Griff haben? Wurde er vorhin, als ihm schwindelig wurde womöglich bewusstlos? Liegt er irgendwo im dunklen Wald, während die Wanderträume ihm diese Dinge zeigen?

Er ging durch die von Wildblumen durchzogene Wiese und wurde von ihrem zarten Duft begleitet, während er den Blick auf das Zentrum der Lichtung gerichtet hatte. Die Wiese endete und ging über in einen kleinen Obstgarten, der wiederum bis zum Haus führte. Was ist das für ein Ort? Die unbestimmte Sehnsucht in Stian kroch hervor und breitete sich in ihm aus. Seine Hände ergriffen die Türklinke.

Als er die Tür öffnete, strömten die Waldlichter an ihm vorbei und erhellten das Haus in einem magischen Licht. Etwas in Stian sagte ihm, dass es ok sei einzutreten und er trat über die Türschwelle. Die Dielen knarzten unter seinen Füßen und berührten etwas in ihm. Er betrat einen Raum, in dessen Ecke ein Kamin stand. Eine einladend wirkende Bank mit weich aussehenden Kissen stand davor und wurde von Bücherregalen geschmückt. Daneben standen zwei hübsch verzierte Wanderstöcke. Stian trat an eines der Regale heran. Ein Waldlicht kam herbei und setzte sich auf ein verstaubtes Buch in einem Ledereinband. Auf dem Rücken stand „Auf wilden Wegen – …“. Der Rest war von Staub bedeckt. Genau wie das gesamte Regal. Das Haus schien schon lange leer zu stehen.

Er durchstreifte das Zimmer mit langsamen Schritten und die Sehnsucht in ihm wuchs nun zu einer Größe an, die aus ihm herauszubrechen drohte. Sie drohte ihn zu zerreißen. Sein Herz wurde schwer. Tränen liefen über seine Wangen und hinterließen einen salzigen Geschmack auf seinen Lippen. Hatten die Wanderträume ihn jetzt komplett übernommen? Er sah sich weiter um und betrat ein gemütlich wirkendes Zimmer, mit einem Bett an der Wand und einem schön gearbeiteten Holzschrank daneben. Die Waldlichter waren auch hier und spendeten seinen Augen Licht. Stian öffnete den Schrank und erblickte ordentlich sortierte Kleidung. Als seine Hand darüber strich, brach etwas in ihm. Er sank auf die Knie und stütze sich mit einer Hand am Boden ab. Ein Beben durchfuhr ihn und ein Gefühl wie es nur die Wanderträume auslösen können, nur um ein Vielfaches stärker, durchzog seinen Körper.

Das Leuchten der Wanderträume

Das Gefühl blieb, doch Stian stemmte sich dagegen. Er kämpfte sich auf die Beine und sein Blick fiel auf das Bett. Es sah gemütlich aus, doch an Schlaf war nun absolut nicht zu denken. Durch die gläsernen Fenster konnte Stian sehen, wie der Himmel sich langsam zu einem traumhaften orange-rot färbte und die ersten Sonnenstrahlen das Haus betraten. Die kleinen Waldlichter wirbelten umher und ließen sich langsam von der Sonne ablösen.

Stian brauchte Zeit zum Nachdenken und beschloss das Haus zu verlassen und wieder zum Libellenstern zu gehen. Auf dem Weg zur Tür kam er nochmal an den Bücherregalen vorbei, in denen immer noch ein einzelnes Waldlicht auf dem selben Buch verharrte. Er hielt inne und ging langsam darauf zu. Stian griff nach dem Buch, pustete die dicke Staubschicht herunter und klappte den Einband auf. Hier stand „Auf wilden Wegen – Wanderträume von Stian Lorin und …“ Stian erstarrte. Was war hier los? Er blickte das Waldlicht an, was nun davon schwebte und durch den offenen Spalt in der Tür in die Welt verschwand. Ein Sonnenstrahl durchbrach den Schrecken und warf sein Licht auf ein Regal, das vorher im Schatten gelegen hat. Unzählige wundervoll gearbeitete Holzfiguren standen darauf. Es waren alle möglichen Figuren dabei. Tiere, Häuser, eine Kaffeebohne und sogar Menschen. Sie waren teilweise so detailliert gearbeitet, dass die Figuren wie eine Miniatur des Vorbilds wirkten. Ein Blitz schoss durch Stians Gedanken.

Zurück im Leben

Stian hielt sich am Regal fest und einige Figuren fielen herunter. Bilder von Menschen blitzten vor seinen Augen auf. Menschen in diesem Haus. Er sah einen brennenden Kamin und lachende Menschen, die sich herzlich unterhielten. Ein weiterer Blitz durchzuckte seine Seele und eine Bilderreihe schoss durch Stians Gedanken. Namen, Gerüche, klapperndes Geschirr und das plätschern von Wasser. Es war, als erwachte er aus einem tiefen Schlaf. Als sei der die Sonne selbst, die sich durch eine kilometerdicke Wolkenschicht brannte und ihr Licht der Erde entgegenwarf. Er war der Sturm, der die Blätter umherwirbelte und konnte jedes einzelne Blatt unterscheiden. Stian erwachte aus einem Traum, der so tief und so real war, wie das Haus in dem er stand. Er nahm das Buch und blätterte darin. Seine Augen weiteten sich und seine Gedanken überschlugen sich, als die Erinnerungen schlagartig wieder Platz in seiner Seele einnahmen. Die Leere, die er so lange Zeit verspürt hat, war plötzlich verschwunden. Er lächelte mit tränennassen Augen, bis er schluchzend zusammenbrach. Es war zu überwältigend. Stian lag eine Weile einfach nur da. Auf dem Boden neben dem Kamin. So lange, bis seine Tränen verebbten und seine Seele sich festigte. Dann stand er langsam wieder auf, ging zu den Wanderstöcken und ergriff einen davon. Er wandte sich zum gehen und hielt nochmal inne. Er ergriff auch den zweiten Stock. Heute brauchte er beide. Entschlossen verließ er das Haus.

Die Wiederkehr der Wanderträume

Stian durchquerte die Wiese vor dem Haus und trat in den nun vom Tageslicht erhellten Wald. Schnellen Schrittes folgte er dem kleinen Pfad, der nun wo ihm die Sonne ihr Licht spendete, auch ohne die Waldlichter zu sehen war. Mit den Wanderstöcken in der Hand und Gedanken, die sich immer noch überschlugen, setzte er einen Schritt vor den anderen. Das Wandern hat ihn schon immer beruhigt. Es half ihm, sich zu ordnen und die Welt klarer zu sehen. Als er beim Libellenstern ankam, blieb er vor der Tür stehen. Sein Herz schlug so heftig, dass sein Hals spürbar pulsierte und er fühlte sich so wach, wie seit langer Zeit nicht mehr.

Er betrat die Schankstube und ging zielgerichtet auf den Gastwirt zu. Stian blickte seinem Bruder in die Augen. Mit erhobenen Wanderstock sagte er: „Lust auf neue Wanderträume?“. Tams Augen weiteten sich. Langsam kam er auf Stian zu. „Wann immer du bereit bist“. Mit einer kräftigen Umarmung, die Stian die Luft aus den Lungen drückte, flossen nun auch die Tränen unaufhaltbar und hinterließen eine Lebensfreude, die nur von der Fantasie beschrieben werden kann.

Vielen Dank für’s Lesen meiner ersten Kurzgeschichte „Die Wanderträume“!

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Das Beitragsbild wurde mit Microsoft Designer und Canva erstellt.

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12 Kommentare

  1. Klasse geschrieben. ich konnte mich mit Stian identifizieren und das kleine Abenteuer in seinen Augen miterleben. Bin gespannt auf mehr ☺️

    • Vielen Dank! Das freut mich wirklich sehr😊. Eine Geschichte zu schreiben ist immer nur die eine Seite. Ob sie auch so rüberkommt, wie ich es versuche zu beschreiben ist die andere. Es freut mich, dass ich es geschafft habe!

  2. War herrlich flüssig zu lesen, erzeugt sofort Bilder in meinem Kopf und dieser Stian dürfte dir sehr ähnlich sein. Schön was du da an Fantasie und Gefühlswelt offenbarst. Da ist so viel Gefühl, überwältigend. Ich hab die kurze Reise sehr genossen und freu mich auf weitere Kurzreisen. 🤗

    • Danke für das tolle Feedback!! Es freut mich wirklich sehr, dass dir die Geschichte gefallen hat und ich es geschafft habe, die Gefühle lebendig werden zu lassen😊🙏🏼

  3. Wunder wunderschön geschrieben 🥰 ich bin direkt tief eingetaucht in diese magischen Worte und möchte unbedingt mehr davon ✨🦋

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