Ein Hauch von Freiheit

Wie immer zu dieser Jahreszeit, war es bereits dunkel und der Weg, der Silas in den nächsten Ort führte, war heute mit Schnee bedeckt. Alte, flackernde Laternen spendeten ihm immerhin so viel Licht, dass er die vereisten Stellen sah, bevor er darauf trat. Er hauchte ein kleines Wölkchen in die Nacht, das schnell zu einem Teil der Welt wurde und in ihr verschwand. Er fand es faszinierend, wie sein Atem im Winter sichtbar wurde. Ein Hauch von Freiheit. Könnte er nicht einfach zusammen mit seinem Atem in die große, weite Welt verschwinden? Einfach hinforttreiben und alles hinter sich lassen? Wie Gedanken im Wind.

Silas war arm. Er hatte weder ein festes Einkommen, noch ein festes Leben. Nicht einmal ein festes Haus hatte er. Er war nicht direkt obdachlos, denn ein Dach und einen trockenen Platz für die Nacht hatte er. Es war nicht sein Dach. Er besaß es nicht. Aber es schützte vor dem Regen. Konnte man eine Brücke überhaupt besitzen? Dazu noch eine so breite und massive Brücke? Sie war so etwas wie ein Mehrfamilienhaus, in deren Schutz sich verschiedenste Leben zusammenfanden. Insgesamt lebten hier zwischen fünf und neun Menschen, einige Hunde, zu viele Ratten und hin und wieder verirrte sich auch ein Beamter hierher, dessen Aufgabe es war, den Bereich „von Unrat zu säubern“. Er bahnte sich dann einen Weg zwischen den brennenden Blechtonnen, an denen sich die Menschen und Tiere wärmten, vorbei an den Deckenburgen und alten zerissenen Kartons. Auf seinem Weg, rief er immer wieder laut, „verschwindet oder ihr werdet gewaltsam entfernt.“ Dabei hielt er stets seinen Schlagstock in bedrohlicher Pose erhoben und achtete darauf, mindestens zwei Meter Abstand zu dem Unrat zu halten. Seine Drohungen waren ungefähr so wirkungsvoll, als wenn man versucht einem Sturm Einhalt zu gebieten, indem man ihm zuruft, er solle vergehen. Menschen und Tiere beobachteten ihn skeptisch, bis er am anderen Ende der Brücke verschwand und waren dann wieder mit sich selbst beschäftigt. Er kam ungefähr drei Mal jährlich und wehte wie ein störender kalter Wind durch ihr zu Hause.

Silas war so tief in seinen schweren Gedanken versunken, dass er die rutschige Stelle übersah. Sein rechtes Bein glitt zur Seite weg. Reflexartig versuchte er sich mit dem anderen Bein abzufangen, doch wer das schon einmal auf Eis versucht hat, der weiß wie die Sache in den allermeisten Fällen endet. Ein schmerzhafter Stich durchfuhr ihn, als er mit dem Steißbein auf den harten Boden aufprallte. „Verflucht“! Schrie er und wand sich hin und her, um den Schmerz zu verjagen. Dann blieb er einen Moment lang liegen. Kälte kroch in seinen Körper und brachte ihn dazu sich zu bewegen. Mit den Jahren hatte er gelernt, dass mit der Kälte nicht zu Spaßen war. Sie war gnadenlos und machte auch vor den kleinen Körpern von Kindern nicht halt. Die Winter waren ein stetiger Kampf ums Überleben. Und Nächte wie diese, waren gefährlich.

Bei dem Versuch aufzustehen, fuhr ein Schmerz durch seinen rechten Fuß und er stürzte erneut. Diesmal konnte er sich allerdings mit den Händen abfangen, was zu einem brennenden Handballen führte. Dabei fiel die eine magere Münze, die er sich heute verdient hatte aus seiner Tasche und verschwand im Schnee. Seine Hände brannten aber was waren schon Schürfwunden. „So ein Mist. Das kann ich jetzt gar nicht gebrauchen! Verfluchtes Eis!“ Schimpfte er vor sich hin, während er im Schnee grub und nach der Münze suchte. Glücklicherweise hatte er sich gemerkt, wo sie verschwand und seine Hände umschlossen kurz darauf etwas Metallisches, das ein beruhigendes Gefühl in ihm hervorrief. Er hielt sie fester, als er wollte, atmete tief ein und dann langsam wieder aus.

Silas unternahm einen erneuten Versuch auf die Beine zu kommen. Mit einem leicht unsicheren Stand und angespannten Muskeln hielt er sich diesmal aufrecht. Er hatte sich seinen Fuß verstaucht. Oder gezerrt, gedehnt oder verdreht. Völlig egal. Es tat weh. Humpelnd stolperte er den Weg entlang, die Münze mit der linken Hand fest umschlossen. Das war die letzte Laterne auf diesem Weg. Ab hier wurde es dunkel. Und ab hier waren es noch ungefähr dreißig Minuten bis nach Hause. Er ging diese Strecke jeden Tag hin und zurück, denn in der Stadt, waren seine Chancen größer Geld zu erhalten. Er stand dann meistens im Zentrum der Einkaufsstraße und bat die Passanten um eine Spende für sein Leben. Ja, auch er hatte ein Leben. Und auch er hatte eine Vergangenheit. Doch die Umstände, die ihn hierher geführt haben, waren so tief im Nebel seiner Seele verborgen, dass sie nicht mehr zu greifen waren. Ein Hauch von Sehnsucht durchzog ihn und eine Träne lief einsam an seiner Wange herab, während um ihn herum die Dunkelheit näher rückte.

Doch obwohl die Menschen zur Weihnachtszeit spendabler waren als zu anderen Zeiten, bekam er heute nur diese eine Münze. Ein zerzauster Junge, der vielleicht gerade einmal fünfzehn Jahre alt gewesen sein musste, gab sie ihm mit einem warmen Lächeln und wünschte ihm einen guten Tag.

Silas trat aus dem letzten Lichtkegel und die Nacht tauchte seinen Blick in Dunkelheit. Er blieb kurz stehen, damit seine Augen sich an das fehlende Licht gewöhnten. Er lauschte dem fröhlichen Lachen von Kindern und dem Gesang von Weihnachtsliedern, die der Wind an seine Ohren trug. Dann ging er langsam weiter. Der See, der ihm im Sommer manchmal eine Abkühlung und ein Bad bot, lag nun kalt und still zu seiner Linken und warf dem Himmel das Funkeln der Sterne in einem perfekten Abbild zurück. Er trat näher an den See heran und musste dafür eine Wiese überqueren. Der schmerzende Fuß machte sich auf dem unebenen Boden besonders stark bemerkbar. Am Ufer angekommen, blickte er wie gebannt auf die spiegelgleiche Wasseroberfläche. Ein Sternenmeer, wie aus einem Traum funkelte darauf und tauchte die Umgebung in eine Märchenhafte Landschaft. Das dahinter angrenzende Waldstück umrahmte den See in einem Halbkreis und die Bäume wirkten in diesem fahlen Licht wie riesige Wächter. Ein Hauch von Freiheit machte sich in ihm breit. Nur ein Hauch. Nur für diesen einen Moment. Kann es nicht immer so sein? Friedlich und schön, wie dieser Moment?

Silas betrachtete die Münze in seiner Hand, als wäre sie ein Fremdkörper. Irgendetwas daran fühlte sich falsch an. Sie war ungewöhnlich schwer, und obwohl es dunkel war, schien sie im schwachen Licht der Sterne zu schimmern. Als er die Münze näher betrachtete, erkannte er Gravuren, die er noch nie zuvor gesehen hatte – ein seltsames Muster, fast wie kleine, tanzende Sterne. Der Junge hatte sie ihm gegeben, aber… woher stammte sie wirklich? Und warum fühlte sich alles plötzlich so anders an? Ein innerer Drang ergriff ihn. Ohne es wirklich zu verstehen, trat er näher ans Wasser.

Er sah noch einmal auf die Münze. Dann auf den See. Einer Art Eingebung folgend, drehte er die Münze auf seiner Handfläche wie eine Scheibe und… der See veränderte sich. Nein es war nicht der See, der sich veränderte, sondern die Sterne auf ihm. Sie passten nun nicht mehr zum Himmel. Was war das für eine Münze? Etwas in ihm bewegte ihn dazu Hoffnung zu verspüren. Mit zitternder Hand hob er sie an und flüsterte: „Wenn du wirklich etwas Besonderes bist, dann zeig es mir.“ Er warf die Münze mit aller Kraft in den See. Sie zog einen silbernen Bogen durch die Luft, bevor sie mit einem kaum hörbaren Platschen die Wasseroberfläche durchbrach. Im selben Moment begann das Sternenbild auf dem See zu pulsieren – das Wasser kräuselte sich, als hätte die Münze etwas geweckt. Silas wich erschrocken zurück, doch sein Blick blieb gebannt auf den See gerichtet. Dann hörte er es – ein leises Summen, wie das Flüstern eines uralten Liedes. Er kannte die Worte nicht aber er verstand sie. Sie drangen in seine Seele und durchbrachen etwas.

Das Flüstern ließ nach und der See beruhigte sich wieder. Der Himmel auf dem See sah nun wieder aus wie eine Spiegelung des Sternenmeers über ihm. Doch ein Hauch von Magie lag immer noch in der Luft. Was war das gerade? Im Licht der Sterne ging Silas zum Weg zurück und bemerkte, dass sein Fuß plötzlich nicht mehr schmerzte. Auch die Schürfwunden an seinen Händen brannten nicht mehr und schienen geheilt zu sein.

Silas setzte seinen Weg nach Hause fort und fühlte sich verändert. Er spürte eine innere Wärme, die seinen gesamten Körper durchflutete. Nach einer Weile kam die Brücke in Sichtweite. Die tanzenden Flammen waren bereits aus der Ferne zu sehen und er konnte schemenhaft erkennen, wie sich Menschen darum versammelt hatten.

Als Silas näher kam, betrachtete er die kleine Gemeinschaft um das Feuer. Zum ersten Mal sah er nicht nur Überlebende – er sah Freunde, Familie, Verbündete. Die Wärme, die er in sich trug, schien sich auf alle auszubreiten, als ob das Wunder des Sees sie alle berührt hätte. Er fühlte sich leicht, als hätte die Münze, die er weggegeben hatte, ihm etwas Unbezahlbares zurückgegeben: Hoffnung.

Er ging der Flamme entgegen, die ihn auf eine Weise anzog, wie es bereits der See getan hatte. Plötzlich flackerten rundherum alle Flammen in den Blechtonnen auf, und ein leises Flüstern erfüllte die Luft. Alle Köpfe wandten sich den Feuern zu, die für einen Moment heller brannten. Ein für Silas leises, vertrautes Flüstern erfüllte die Luft, das nun auch die Anderen hörten. Es war das gleiche Lied, das er am See vernommen hatte, doch jetzt war es klarer. Die Worte waren nicht mehr unverständlich – sie sprachen von Liebe, Gemeinschaft und dem Mut, wieder zu träumen. „Damit es nicht nur ein Hauch bleibt“ dachte Silas. Irai, die für ihr gutes Herz bekannt war, legte eine Hand auf seine Schulter. „Das Feuer… hast du das auch gehört? Es klingt wie… Hoffnung.“ Silas nickte stumm, seine Augen glitzerten. „Es ist mehr als das“, sagte er schließlich. „Es ist ein Anfang.“ In diesem Moment begann der Schnee zu fallen. Große, leuchtende Flocken tanzten vom Himmel und ein Windstoß trug sie weit unter die Brücke. Das Feuer schien sie zu begrüßen, als ob es sie nicht schmelzen, sondern umarmen wollte. Jeder Anwesende hob den Kopf und ließ die Stille der Nacht und die Schönheit des Moments auf sich wirken.

Die Kälte war nicht mehr bedrohlich. Die Welt fühlte sich friedlich an und die Brücke, einst ein Ort der Not, war jetzt ein Ort voller Zauber und Wärme. Und so sollte es fortan bleiben. Unter der Brücke wurde es nie wieder so kalt, dass die Menschen frieren mussten. Die Gemeinschaft erbaute sich ein Heim, das die Ehrlichkeit und Gemütlichkeit jedes Hauses in den Schatten stellte. Dieser Ort ging in die Geschichte als „Die Zuflucht“ ein und wurde niemals wieder versucht zu räumen. Vielmehr wurde er zu einem Sinnbild der Hoffnung und zog immer wieder Menschen an, die auf ihrem Lebensweg eben diese verloren hatten. Silas lächelte. „Vielleicht ist heute der Tag, an dem wir nicht nur überleben, sondern endlich wieder wirklich leben. “Irai sah ihn an, dann die anderen. „Zusammen“, flüsterte sie. Die Flammen knisterten zustimmend, und der Schnee legte sich sanft wie ein Versprechen auf die Welt. Ein Versprechen, dass jeder Anfang leise beginnt – und dass ein Hauch von Freiheit alles verändern kann.

Vielen Dank für das Lesen meiner Kurzgeschichge „Ein Hauch von Freiheit“. Ich freue mich auf dein Feedback, das du unten als Kommentar hinterlassen kannst.

Wenn dich dabei ein Hauch von Melancholie durchzogen hat, gefällt dir vielleicht mein Gedicht „Tanz der Gräser“.

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4 Kommentare

  1. Eine wunderschöne und herzergreifende Geschichte, die zu dieser Jahreszeit zum Nachdenken bewegt. Danke Rainer für diese schöne Geschichte❤️❤️❤️

  2. Eine berührende Geschichte, die ein so wichtiges Thema aufgreift…. Besonders im Winter sollten wir nicht vergessen, wie schwer es manche Menschen haben und wie wichtig Wärme und Gemeinschaft sind. Kleine Gesten machen oft einen Unterschied….Eine sehr wertvolle Geschichte, Rainer.

    • Vielen Dank, Hannah! Das stimmt. Wir müssen das wertschätzen, was wir haben und uns bewusst sein, dass es nicht selbstverständlich ist. Vielen Dank für’s Lesen und dein Feedback!

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