Liebes Ende,
wartend stehst du dort am Horizont im Nebelschleier. Eine vage Vermutung. Eine unscheinbare Furcht. Und dennoch bist du für alle sichtbar. Wir sehen dich als Dunst im Sekundenzeiger unserer Uhr. Wir fühlen dich, wenn wir stolpern, einen Schritt zu viel machen und gerade noch vor dem vorbeifahrenden Auto zum stehen kommen. Wir hören dich im Wind, wenn du das hinfort nimmst, was keinen Halt mehr im Leben hat. Und wir riechen dich im Herbst, wenn all die Farbe der Blätter unwiederbringlich in die Welt gesickert ist. Ein betörender Duft, der selbst dir eine bunte Aura beschert.
Liebes Ende. Wenn wir versäumen, das Jetzt zu genießen, gehst du dann einen Schritt zurück und machst uns Platz, um die verschwendete Zeit nachzuholen? Oder kommst du dann einen Schritt auf uns zu, weil du denkst, dass wir den Raum zwischen Leben und Tod nicht verdienen?
Oder stehst du nur da… wartend und in aller Stille? Beobachtend? Stehst dort hinten im wabernden Schleier aus tiefhängenden Wolken? Dort hinten am Horizont? Bist du das? Oder ist die von drückender Furcht umgebende Silhouette und das Raunen im Geiste nur eine Warnung unserer Seele?
Liebes Ende, siehst du uns zu, wie wir unseren Weg in deine Richtung gehen? Erstaunt es dich, welche Wege wir einschlagen, um dich zu vergessen und doch geradewegs auf dich zulaufen? Wundert es dich, dass wir all die Dinge lernen wollen, nur um sie dann wieder zu verlieren, sobald wir dich erreicht haben?
Oder bist du nur ein kleiner Teil des Ganzen? Ein Körnchen im Kreislauf all Dessen, was wir Leben nennen? Ein Tropfen im Ozean? Fürchten wir dich nur, weil du eine andere Sprache sprichst? Worte, die wir nicht verstehen? Klänge, die uns Angst einjagen?
Liebes Ende, sollten wir dir einen anderen Namen geben, da dieser dir nicht gerecht wird?
Du bist so alt, wie das Leben selbst. Älter als die höchsten Berge und tiefgreifender als die tiefsten Schluchten aller Welten. Du bist weiser, als das älteste Leben und wissender als jeder gelebte Verstand. Du bist realer als die eigenen Gedanken und dennoch hältst du dich im Hintergrund verborgen. Still und leise. Ruhig und weise stehst du dort und lässt uns unserer Wege ziehen. Selbstbewusst und wohlwissend, dass wir alle eines Tages deine Hand ergreifen werden. Du bist weder gut noch böse. Du bist ein Tropfen im Ozean. Ein Teil der Erde, ein Flüstern im Wind. Du bist ein Funke im Licht, ein Heulen im Sturm und ein Gedanke in der Stille.
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Oder gibt es gar kein Ende, sondern nur einen Übergang in ein anderes Leben oder eine andere Welt? Wie eine Art Pforte. Irgendwann wird jeder Mensch dieses Wissen erlangen.
Wer weiß? Solange wir im Ungewissen sind lebt die Fantasie.